Zwischen Thyssen Krupp und SL
Naturenergie in Hagen herrscht ein intensives Spannungsverhältnis. Auch die Verbindung von Airbus Helicopters in Donauwörth und GP
Joule im 20
Kilometer entfernten Tapfheim steht gehörig unter Strom. Gemeinsam haben diese Beispiele aus Nordrhein-Westfalen und Bayern: Grüne Kraftwerke liefern Strom über eine Direktleitung zu einem industriellen Abnehmer.
Der Gladbecker Projektentwickler SL Naturenergie hat umgesetzt, was für den Bundesverband Windenergie (BWE) zu den „absoluten Ausnahmefällen“ in Deutschland zählt: Aus einem vier Turbinen starken Windpark in Hagens bewaldeten Höhen läuft ein Kabel direkt hinunter ins Tal zum Stahlwerk von Thyssen Krupp.
Der Landesverband Erneuerbare Energien (LEE NRW) feierte die im Juni offiziell aufgenommene Stromversorgung als Premiere mit „bundesweiter Bedeutung“. Der Warmwalzbetrieb des Stahlkonzerns deckt mit den vereinbarten 55
Millionen
kWh etwa 40
Prozent seines aktuellen Jahresbedarfs an Strom.
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Brammen rollen im Stahlwerk von Thyssen Krupp in Hagen über Walzen. Der Ökostrom, der sie mit antreibt, stammt direkt aus einem Nachbarwindpark Quelle: E&M / Volker Stephan |
In den Fertigungshallen ist es glühend heiß. 26
Zentimeter dicke und mehrere Meter lange Brammen, lodernd orange, rollen über Walzen hin und her. Bis das Schauspiel abrupt und mit etwas kühleren, teilweise nur 1,5
Millimeter dicken Ergebnissen endet: So zart filetieren die Maschinen das heiße Ausgangsmaterial. Kunden verarbeiten und zerkleinern schließlich die zu Coils gerollten Stahlbänder weiter. Etwa zu Rasierklingen, 0,2 Millimeter dick. Auch kleine Federsysteme, die Autogurte zurückschnellen lassen, haben ihren Ausgangspunkt in Hagen.
Der Strom aus dem 18-MW-Windpark spielt für den Fertigungsprozess eine wichtige, aber nicht die Hauptrolle. Die erforderliche Schmelztemperatur von 2.000
Grad Celsius erreicht Thyssen Krupp nicht elektrisch, sondern thermisch: durch zwei Öfen, die mit Gas laufen. Der größere der beiden Heizbottiche, der zwei Drittel des in Hagen-Hohenlimburg erzeugten Stahls (1
Million Tonnen pro Jahr) auf Temperatur bringt, soll von 2025 an auch mit Wasserstoff arbeiten. Entsprechend benötigt Thyssen Krupp den Grünstrom aus dem Wald derzeit vorrangig für das Walzen des Stahls sowie für die allgemeine Stromversorgung der Anlagen.
Von „Echtzeit-Abnahmemenge“ spricht Milan Nitzschke, einer der Geschäftsführer von SL
Naturenergie, in diesem Zusammenhang. Produziert der Windpark einmal mehr als benötigt, wandert der Strom ins allgemeine Netz. Thyssen Krupp rechnet ihn dann einem anderen Bilanzkreis zu. Thyssen-Krupp-Standortchef Andre Matusczyk beziffert die eingekaufte Windstrommenge auf 40 Prozent des Bedarfs. Den Rest bezieht das Unternehmen nach wie vor aus Gründen der Versorgungssicherheit aus dem Netz. Mit der Zeit will Thyssen Krupp entscheiden, ob der Anteil des Windstroms steigen kann. Dann ließe sich die eine oder andere zusätzliche Turbine auf dem Berg anschließen.
Hagen-Hohenlimburg fällt aus dem Rahmen der branchenüblichen Direktabnahmeverträge (PPA): Der Strom fließt abseits des öffentlichen Netzes. Das ist das Wesen eines „Onsite PPA“. Aus diesem Grund markierte der Lieferstart für Landes-Energieministerin Mona Neubaur (Grüne) nicht weniger als „einen historischen Tag für Deutschland“.
Das Erzeugen und Verbrauchen an Ort und Stelle ist Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil ergibt sich daraus, dass mit dem exklusiven Direktkabel keine Netzentgelte anfallen. Und die Vertragspartner werden unabhängig von Engpässen im allgemeinen Netz.
Seit 2024 allerdings versteht der Gesetzgeber unter „an Ort und Stelle“, dass Stromleitungen höchstens fünf Kilometer lang sein dürfen. BWE-Geschäftsführer Wolfram Axthelm hält dies für hinderlich. „Bei Windkraftanlagen benötigen wir eine größere Flexibilität, weil sie nicht so nah an Betriebe heranrücken können wie Solarparks“, sagt er.
Die Befürchtung, dass beliebig lange Trassen für die Direktlieferung entstehen könnten, teilt er nicht. Schließlich werde ein Projekt mit jedem Kilometer Kabel unwirtschaftlicher. Durch das Streichen der maximalen Länge würde dagegen „ein großer Schub für den Mittelstand möglich“, so Axthelm. Gerade kleine und mittlere Betriebe benötigten langfristig Grünstrom zu stabilen Preisen.
Während Hagen-Hohenlimburg sich mit dem etwa drei Kilometer langen Kabel auch im neuen gesetzlichen Rahmen bewegt, profitiert das Projekt von GP
Joule und Airbus Helicopters noch vom früheren Fehlen eines Deckels. Bereits im Februar 2023 floss der erste Strom aus dem Solarpark „Hubelschwaige“ in Tapfheim über die 6,5
Kilometer lange Leitung nach Donauwörth. Elf Monate später wäre sie 1.500
Meter zu lang gewesen.
Airbus Helicopters reduziere nun seinen Strombezug über das Netz jährlich um bis zu 20
Prozent, sagt Fabian Faller, Leiter des Bereichs Energiewirtschaft und Public Affairs bei GP
Joule, E&M. Die vereinbarte Strommenge aus dem 3,54
MW starken Solarpark beläuft sich jährlich auf etwa 3,85
Millionen kWh. Davon vermarktet Airbus 620.000 kWh eigenständig weiter. Diese Menge fällt an, wenn die „Hubelschwaige“ mehr PV-Strom produziert, als der Hubschrauberhersteller gerade benötigt, vor allem während der Werksferien.
Onsite PPA eignen sich nicht an allen IndustriestandortenAnders als in Hagen, wo der Windpark schon vor der Idee mit Thyssen Krupp Gestalt annahm, hat GP
Joule die „Hubelschwaige“ auf die Belange des Abnehmers zugeschnitten. Onsite PPA eignen sich laut Faller zwar nicht an allen Industriestandorten, aber bei Airbus Helicopters ergebe die Kooperation Sinn. Er lobt das Konzept der Direktleitung besonders vor dem Hintergrund, dass der Bau den Netzbetreiber entlaste. Der Netzausbau hinkt hinter dem Ausbau der Erneuerbaren her. Eigene Leitungen umgehen also einen verzögerten Netzanschluss.
Die lange eigene Leitung stand derweil vor kniffligen und teuren Herausforderungen. So galt es, die Donau zu unterqueren. Auch Fabian Faller hält daher die neue Höchstlänge nicht für schlüssig: „Niemand verlegt jubelschreiend 20
Kilometer lange Leitungen.“ Bei solchen Entfernungen gebe es eine technisch einfache, günstige Trasse so gut wie nie. Nur wenn die Leitung ausschließlich öffentliches Gelände berührt, muss die Kommune die Nutzung dulden. Private Grundeigner dagegen können den Zugang verwehren − und sie verlangen Pacht.
BWE-Chef Axthelm fordert nicht nur für die Windenergiebranche, dass der Gesetzgeber die Bestimmungen rund um die „räumliche Nähe“ zwischen Stromproduzent und -abnehmer entrümpelt. Aktuell fällt auch eine Direktleitung unters Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), sobald sie andere Infrastruktur − wie Radwege, Flüsse oder andere Kabelstränge − über- oder unterquert. „Dadurch fallen dann genau die Netzentgelte an, die wir eigentlich vermeiden wollen“, so Axthelm. Hier sieht er den Bund gefordert, „wenn der echte industrielle Mittelstand in die Lage kommen soll, seine Produktion mit eigenen Konzepten zu dekarbonisieren“.
GP
Joule prüfe auch in der Windenergie fortwährend Projekte mit Direktlieferung, sagt Fabian Faller. Er sieht allerdings nicht die gleiche Dynamik wie bei der PV, die derzeit wegen der geringeren Flächenrestriktionen noch besser für PPA geeignet sei. Milan Nitzschke von SL
Naturenergie, zugleich Vizepräsident des BWE, setzt gleichwohl auf den Hagener Windpark als „Blaupause für Direktlieferung in der ganzen Republik“. Zu dieser Auffassung gelangt er nicht zuletzt, weil ein Projektentwickler nach dem anderen sich bei ihm über das Konzept erkundige. Auch in der Duisburger Zentrale von Thyssen Krupp häuften sich die Anfragen von Industrieunternehmen.
„Wenn Unternehmen es schaffen, von ihren Standortgemeinden Flächen für einen eigenen Windpark zu erhalten, ist das eine Win-win-Situation“, sagt er. Es dürfe nicht darum gehen, bestehende Strommengen aus dem unter Druck stehenden Netz neu zu verteilen, „sondern neue Strommengen auf neuen Flächen in die Welt zu bringen, um die Industriebetriebe mit sauberer Energie zu versorgen“. Dann blieben die Unternehmen den Kommunen auch erhalten.
Milan Nitzschke wünscht sich, dass die „absoluten Ausnahmefälle“ aus NRW und Bayern bald Standard werden − und so weitere spannende Beziehungen entstehen, in denen zwei an einem Strang ziehen.
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Dieser Windpark bei Hagen liefert seit Frühjahr 2024 Ökostrom direkt ins benachbarte Stahlwerk von Thyssen Krupp Quelle: SL Naturenergie |
Dienstag, 24.09.2024, 08:59 Uhr
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