E&M: Herr Seebach, dass die Zahl der Ökostromkunden weiter steigt, wie die jüngste E&M-Branchenerhebung zeigt, dürfte Sie nicht überrascht haben, oder?
Seebach: Die Zahlen fallen sogar positiver aus, als ich sie erwartet hätte. Machen wir uns nichts vor: Ein Rückgang hätte wirklich dem Zeitgeist widersprochen. Die jüngsten Umfrageergebnisse bestätigen den Trend der vergangenen Jahre: Die Zahl der Ökostromkunden wächst stetig auf niedrigem Niveau. Keine Frage, diese Entwicklung könnte schneller gehen.
E&M: Woran liegt die Wechselbereitschaft mit angezogener Handbremse?
Seebach: Es gibt noch immer Wissensdefizite bei den Verbrauchern, wenn es um nachhaltigen Ökostrom geht. Trotz 20 Jahren Liberalisierung gibt es weiterhin einen hohen Anteil an Stromkunden, die in der Grundversorgung geblieben sind. Wie
E&M zeigt, ist ja auch die Zahl der sogenannten Komplettumsteller weiter gestiegen, es besteht für immer mehr Verbraucher also überhaupt kein Anlass mehr, selbst aktiv zu werden und ein Ökostromprodukt zu bestellen. Diese Entwicklung sehe ich zwiespältig: Wir brauchen mehr Ökostrom im Gesamtsystem, der die Energiewende voranbringt. Allein steigende Kundenzahlen via Komplettumstellung sind dafür viel zu wenig.
E&M: Wie müssen sich Unternehmen aufstellen, um sich wirklich glaubhaft grün präsentieren zu können?
Seebach: Der durch das EEG geförderte Erneuerbaren-Anteil am Strommix der Haushaltskunden beträgt aktuell ohnehin schon 60 Prozent, die Tendenz ist steigend Richtung 80 Prozent. Bei dieser Entwicklung als Komplettumsteller auf einen 100-prozentigen Ökostrombezug zu verweisen, halte ich als Unterscheidungsmerkmal für zu wenig. Daher kann ich nur jedem Stromversorger empfehlen, sich nicht allein über den rein rechnerischen Anteil an Erneuerbaren im Strommix profilieren zu wollen, sondern über echte Energiewendeaktivitäten und hochwertige Produkte, die mit anerkannten Gütesiegeln zertifiziert werden. Außerdem stehen für mich Multiplikatoren wie die Tarifportale in der Pflicht, hochwertigen Ökostrom für die Verbraucher viel besser sichtbar zu machen.
E&M: Da Grün nicht gleich Grün ist: Erwarten Sie mehr Arbeit und Kunden für die Ökostromzertifizierer?
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Dominik Seebach: „Für mich stehen Multiplikatoren wie die Tarifportale in der Pflicht, hochwertigen Ökostrom für die Verbraucher viel besser sichtbar zu machen“ Foto: EnergieVision e.V. |
Seebach: Unsere Arbeit wird einerseits nicht weniger, andererseits auch wertvoller. Wir werden auf jeden Fall unsere Kriterien im Blick haben und gegebenenfalls anpassen, damit es weiterhin nachvollziehbare Unterscheidungsmerkmale für Ökostrom gibt. Auch werden wir das Engagement der Ökostromanbieter für die Energiewende weiterhin in unserem Kriterienkatalog honorieren. Dazu gehört beispielsweise die Frage, wie die einzelnen Unternehmen den Weiterbetrieb der sogenannten Ü20-Anlagen im Solar- und Windsektor sicherstellen. Klar, hängt der Weiterbetrieb in erster Linie vom Referenzpreis an der Strombörse ab, aber Ökostromanbieter und Zertifizierer können zusätzliche Anreize geben. Denn für die Energiewende zählt jedes regenerative Kraftwerk, das in Betrieb ist.
E&M: Wird es auf europäischer Ebene ein gemeinsames Ökostrom-Label geben?
Seebach: Die EU-Kommission ist nach wie vor in der Pflicht, einen Bericht vorzulegen, der genau dieses Thema beleuchtet. Nach wie vor hat sie selbst noch keine Position bezogen, sondern will erst die Ergebnisse einer öffentlichen Konsultation abwarten. Ob, wann und wie die Kommission sich entscheiden will, lässt sich derzeit nur schwer prognostizieren. Deutschland braucht dieses EU-Label angesichts der bestehenden Vielfalt sicherlich nicht. Anders sieht es in vielen anderen Mitgliedsländern aus, in denen ein glaubwürdiges Label mit nachvollziehbaren Kriterien überfällig ist.
E&M: Auch wenn Sie keine Glaskugel haben: Wann werden die heimischen Stromanbieter angesichts des weiter steigenden Grünstromanteils an der Stromerzeugung nur noch Ökostromprodukte in ihrem Portfolio haben?
Seebach: Die Tage der Atomkraft sind zumindest in Deutschland absehbar gezählt. Aber solange noch fossile Kraftwerke in Betrieb sind, wird dieser Strom auch verkauft werden. Das dicke Brett wird vermutlich sein, alle Verbraucher so weit zu informieren und zu sensibilisieren, dass der aktive Wechsel aus der Grundversorgung kein Hemmnis mehr darstellt. Dann kann bei der jeweiligen Wechselentscheidung auch bei den Low-Interest-Verbrauchern die Ökostromqualität eine stärkere Rolle spielen und so die Umstellung auf Ökostrom entscheidend vorantreiben.
Dienstag, 20.07.2021, 09:41 Uhr
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