Quelle: E&M
Netzengpässe contra Photovoltaik: Wann dürfen PV-Anlagen von Selbstversorgern abgeschaltet werden?
Viel Sonne, kein Strom − so hatte sich das Augustin Keller nicht vorgestellt, als er vor zwei Jahren in eine Photovoltaikanlage investierte. Schon gar nicht wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sie das Stromnetz überfordern könnte. 216 kW Leistung hat die Technik auf dem Dach der Metzgerei Feinkost Keller im bayerischen Langenbach. Der Metzgermeister hat sie so dimensioniert und Abläufe im Betrieb umorganisiert, dass gut 70 Prozent des Stroms, den sie erzeugt, vor Ort verbraucht werden. Den Rest speist er ins Netz ein.
Bis zu 450.000 kWh benötigt der Handwerksbetrieb jährlich. „Letztes Jahr haben sich meine Stromkosten halbiert“, sagt Keller über seine PV-Selbstversorgung. Das wird dieses Jahr nicht klappen.
Der Netzbetreiber, das Überlandwerk Erding, schaltet seine PV-Anlage an sonnenreichen Tagen ab. „Von vormittags 10 bis abends 16 oder 17 Uhr“, berichtet der Unternehmer, der dann nicht einmal PV-Strom für den eigenen Bedarf nutzen darf. An 27 Tagen sei das schon passiert. Er muss für seine Öfen und Kühlung dann Strom aus dem Netz beziehen. Kellers Elektriker, Martin Kistler, sagt, dass sich die Anlage auf „Nulleinspeisung“ regeln lässt. Doch das Überlandwerk besteht darauf, dass sie aus bleibt, wenn das Netz an Grenzen zu stoßen droht.
Kistler kann das nicht nachvollziehen, zumal das Überlandwerk das Vorgehen nicht näher begründet habe. „Welche Gefahr besteht denn für die Netzsicherheit, wenn ich auf Nulleinspeisung herunterregele?“, fragt er sich. Der Elektromeister hat am Netzübergabepunkt einen Leistungsmesser, einen sogenannten MID-Zähler, installiert. Der Zähler ist mit dem PV-Erzeugungsanlagenregler (EZA) verbunden, der wiederum mit dem Wechselrichter vernetzt ist. „Wir können die Software so einstellen, dass sie beim Abregelbefehl am Netzübergabepunkt eingreift“, erklärt er. Bei einer solchen Anlage wirke das Steuergerät des Energieversorgers ohnehin über den EZA. Es sei nur eine Sache der Software-Konfiguration.
Schleierhaft ist ihm auch, warum das Überlandwerk Kellers PV-Anlage an Werktagen abschaltet, wenn der Eigenbedarf sich oft 100 Prozent nähert. „Die Metzgerei speist überwiegend ab Samstagnachmittag und am Sonntag in Netz ein, wenn nur die Kühlaggregate laufen, aber kaum an Werktagen.“ Kistler hat seine Zweifel, dass Netzbetreiber PV-Anlagen wie jene von Keller komplett abschalten dürfen, „ohne im Einzelfall den genauen Grund zu nennen“.
Die Stadtwerke Erding sehen sich im Recht
Die Stadtwerke Erding − ihnen gehört das Überlandwerk − sehen sich im Recht. „Wir handeln gesetzeskonform“, erklärt ein Sprecher des kommunalen Unternehmens gegenüber E&M. Er weist auf Paragraf 13a des Energiewirtschaftsgesetzes und die Festlegung BK6-20-061 der Bundesnetzagentur hin. Vor dem Hintergrund der EU-Vorgaben zum Schutz des Eigenverbrauchs blieben in der Praxis „Unklarheiten“.
Die vorübergehende Abschaltung von PV-Anlagen bei drohenden Netzengpässen, „ist kein Erding-Problem“, sagt der Stadtwerkesprecher. „Auch andernorts in Bayern und anderen Bundesländern mit besonders starkem PV-Zubau wird so verfahren.“
Zufrieden mit dem Status quo ist man in Erding nicht, im Gegenteil. „Wir brauchen klare, im Massengeschäft praktikable Regelungen, was den Eigenverbrauch angeht. Und es fehlt auch an klaren Regelungen für die Entschädigungszahlungen.“ Der Sprecher betont: „Wir haben kein wirtschaftliches Interesse, jemanden an der Eigenerzeugung zu hindern. Auch wurde im betreffenden Fall nur die Anforderung zur Abregelung des vorgelagerten Netzbetreibers umgesetzt.
Vorgelagert ist die Netzgesellschaft der Eon-Tochter Bayernwerk. Welchen Anforderungen sich Bayernwerk Netz gegenübersieht, spiegeln Zahlen wider, die der Bayerische Rundfunk auf Anfrage erhielt. Demnach musste das Unternehmen vor zwei Jahren insgesamt 100.000-mal ins Netz eingreifen, 2023 waren 1 Million Netzeingriffe erforderlich, für dieses Jahr wird mit 3 Millionen gerechnet.
2021 wurden 1,12 Minuten abgeregelt, 2023 77,5 Stunden
Was die Entwicklung im Einzelfall bedeuten kann, zeigt auch das Beispiel einer 100-kW-Volleinspeiseanlage, die Martin Kistler selber betreibt. Im Jahr 2021 regelte sie das Bayernwerk insgesamt 1 Minute und 12 Sekunden ab, 2022 34,5 Stunden, 2023 77,5 Stunden und in diesem Jahr bereits fast 166 Stunden, berichtet der Elektromeister. Seltsam findet er, dass „ein Drittel der Eingriffe bis 23.02 Uhr dauerte“. „Droht nach 17 Uhr tatsächlich Netzüberlastung?“
Bayernwerk Netz teilt mit, dass man zum Fall von Augustin Kellers PV-Anlage keine Aussagen treffen könne, da die Metzgerei nicht im eigenen Netzgebiet liegt. Eingriffe ins eigene Netz erfolgten über einen Algorithmus, „der immer die Anlagen regelt, die am stärksten auf den jeweiligen Engpass wirken“, schreibt das Unternehmen und verweist auf den Boom beim PV-Zubau: 500.000 PV-Anlagen seien mittlerweile an das Netz von Bayernwerk angeschlossen, allein 88.000 seien im vergangenen Jahr hinzugekommen. Die gesamte installierte PV-Leistung im Netzgebiet beziffert es auf rund 10.000 MW. Die abgeregelten Strommengen machten im Vergleich zu den eingespeisten „rund ein bis zwei Prozent“ aus, bilanziert der Netzbetreiber.
Im Ländervergleich hebt sich Bayern bei den Netzeingriffen ab. Nach Angaben der Bundesnetzagentur summierten sich die Redispatch-Mengen mit PV-Anlagen in der Zeit von Januar bis Mai 2024 deutschlandweit auf 528 Millionen kWh. Davon entfielen 355 Millionen kWh auf den Freistaat. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg − bei der installierten PV-Gesamtleistung an zweiter Stelle im Ländervergleich − betrug die Redispatch-Menge 1,13 Millionen kWh, die gleiche Menge war es in Nordrhein-Westfalen. Bei den Redispatch-Mengen an zweiter Stelle lag Sachsen-Anhalt mit 42 Millionen kWh.
Rund 96 Prozent des Ökostroms werden abtransportiert
„Von Redispatch-Maßnahmen wird bisher − mit Blick auf das gesamte Bundesgebiet − vergleichsweise selten Gebrauch gemacht“, betont die Bundesnetzagentur. Das Elektrizitätsversorgungsnetz sei derzeit in der Lage, „rund 96 Prozent der erneuerbaren Strommengen zu transportieren“. Nur etwa 4 Prozent müssten abgeregelt werden, weil die Netzkapazitäten noch nicht ausreichen.
Wie viel Handlungsspielraum lässt der Gesetzgeber im Fall von Selbstversorgern? „Die Regelungen sind eindeutig, aber nicht immer einfach in der Praxis umsetzbar. Dabei ist die Eigenversorgung durch EU-Recht und die Prozessvorgaben der Bundesnetzagentur geschützt beziehungsweise durch finanzielle Ausgleichsansprüche abgedeckt“, betont der Hauptgeschäftsführer des Verbands BSW Solar, Carsten Körnig. Der Eigenverbrauch werde insbesondere geschützt durch Artikel 13 Absatz (6) c) der EU-Elektrizitätsbinnenmarktverordnung.
Die Wahrnehmung des BSW: „Wir hören aus der Praxis, dass nicht alle Netzbetreiber diese verbindlichen Vorgaben umsetzen, sodass Photovoltaikanlagen von den Netzbetreibern teilweise tiefer abgeregelt werden als der aktuelle Eigenverbrauch.“ Der Verband hält die Verfahrensweisen auch für Anlagenbetreiber und Direktvermarkter für aufwendig und wenig praktikabel. „Hier fordern wir dringend Vereinfachungen, präzisere Standards und massentaugliche Prozesse“, so Körnig.
Die Regulierungsbehörde in Bonn stellt klar: „Nach bestehender Rechtslage ist vorgesehen, dass ein Netzbetreiber bei einer ,Selbstversorgung mit Erneuerbare-Energien-Strom‘ nach Möglichkeit nicht die Erzeugungsleistung der PV-Anlage abregelt, sondern nur die Einspeisung ins Netz.“ Solche Maßnahmen seien jedoch nur dann umsetzbar, wenn unter anderem die technischen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. „Bei dem Großteil von Solar-Aufdachanlagen, die über sogenannte ,Funkrundsteuerempfänger‘ nach einem gemeinsamen Signal für Anlagencluster (ohne individuelle Differenzierung) über Wechselrichter abgeregelt werden können, dürften die technischen Voraussetzungen dafür jedoch aktuell wohl nicht gegeben sein“, schreibt die Bundesnetzagentur. Zudem müsse ein Netzbetreiber Kenntnis über die jeweils aktuelle Höhe des anteiligen Erneuerbare-Energien-Selbstverbrauchs beziehungsweise der Netzeinspeisung haben, erklärt die Behörde.
Schutz ist allerdings „nicht absolut“
Wo eine auf die Netzeinspeisung beschränkte Abregelung von Solaranlagen möglich ist, sollen diese Möglichkeiten zum Schutz der Selbstversorgung genutzt werden, erklärt die Bundesnetzagentur. Der Schutz sei allerdings „nicht absolut“: „Sofern eine Abregelung von Erneuerbare-Energien-Selbstversorgungsanteilen erforderlich ist, um Netze stabil zu halten, kann ein Netzbetreiber (nachrangig) weiterhin Erneuerbare-Energien-Strom einschließlich Selbstversorgungsanteilen abregeln.“
Die Netzgesellschaft von Bayernwerk betont, dass dabei Anlagen größer als 100 kW wegen der höheren Wirkung auf einen Netzengpass gesetzlich vorgegeben Priorität haben. „Die Betreiber von Anlagen mit einer Leistung ab 100 Kilowatt können Bayernwerk Netz aber sogenannte Nichtbeanspruchbarkeiten anmelden.
Dazu muss der Anlagenbetreiber vorab über bestimmte Datenformate melden, welcher Erzeugungsanteil der Anlage für den Eigenverbrauch genutzt wird. Bezogen auf die gemeldete Erzeugungsleistung wird die Anlage dann nur subsidiär und nachrangig geregelt, wenn alle anderen Regelungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind“, erläutert der Netzbetreiber. Anlagen kleiner als 100 kW würden „in letzter Instanz danach folgend abgeregelt“.
Augustin Keller rechnet mit einer Entschädigungszahlung. Doch was er tun muss, um das Geld zu erhalten, habe er weder beim Überlandwerk Erding noch beim Bayernwerk in Erfahrung bringen können. Deshalb will er ihnen mithilfe seines Elektromeisters für die unterbrochene Selbstversorgung „eine Rechnung schreiben“.
Dienstag, 1.10.2024, 08:26 Uhr
Manfred Fischer
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